Kurt Sanderling
Dirigent:in
1912 — 2011
In seinem langen Dirigentenleben hat Kurt Sanderling seine Expertise für die deutsche Musik in der Sowjetunion und nach der Rückkehr in die (ost)deutsche Heimat seine erworbene Kenntnis des russischen Repertoires auf einzigartige Weise entfalten können. Sanderling, der einen Tag vor seinem 99. Geburtstag im September 2011 starb, erlebte den Untergang des deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik, das Ende des Stalinismus und schließlich das des osteuropäischen Kommunismus sozusagen immer »vor Ort«.
Im Alter von 19 Jahren wurde Sanderling Korrepetitor an der Städtischen Oper in Berlin Charlottenburg. Als politisch links stehender Jude musste er 1935 Deutschland verlassen und emigrierte zu Verwandten in die Sowjetunion. Nach entbehrungsreichen Jahren fand er schließlich eine künstlerische Heimat bei den Leningrader (heute: St. Petersburger) Philharmonikern. Die Zeit des auch für Künstler*innen lebensbedrohlichen stalinistischen Terrors überstand er nach eigener Aussage auch deshalb relativ unbeschadet, weil er beim Orchester zweiter Mann hinter Chefdirigent Jewgeni Mrawinski blieb. In seiner sowjetischen Periode trat Sanderling in persönlichen Kontakt mit Dmitri Schostakowitsch und erwarb als Interpret von dessen Musik bald einen außergewöhnlichen Ruf. 1960 kehrte Sanderling nach Deutschland zurück, wo er bis 1977 als Chefdirigent das Berliner Sinfonie- (heute: Konzerthaus-)Orchester zu einem Spitzenensemble formte. Einladungen zu international angesehenen Klangkörpern machten ihn in dieser Zeit auch im westlichen Ausland bekannt. Sanderling, dessen drei Söhne ebenfalls angesehene Dirigenten sind, war in seinen späten Jahren ein allseits bewunderter Musiker, dessen Auftritte durch eine von Lebenserfahrung gesättigte Ausdruckskraft begeisterten. Seinen Rücktritt vom Konzertleben kündigte er 2002 im Alter von 90 Jahren an. Referenzstatus haben neben den Schostakowitsch-Aufnahmen seine Einspielungen der Sibelius-Symphonien, aber auch seine Interpretationen von Werken Beethovens, Schuberts, Schumanns, Brahms´ und Mahlers. Es komme nicht darauf an, »wie«, sondern »was« man dirigiere, sagte Kurt Sanderling einmal, der selbst nie eine formale Ausbildung zum Orchester-Leiter erhalten hatte.