Zu den Inhalten springen
Nikolaus Harnoncourt

Nikolaus Harnoncourt

Dirigent:in

1929 — 2016
Der österreichische Dirigent, Cellist und Gambenspieler Nikolaus Harnoncourt war über sechs Jahrzehnte lang eine herausragende Persönlichkeit der internationalen Musikszene, ein »Unknall der historischen Aufführungspraxis und zweifellos der wichtigste Dirigent, der nach Karajan kam«, wie die Welt konstatierte. Ob mit den historischen Instrumentalisten des Concentus Musicus Wien – einem der innovativsten und ungewöhnlichsten Ensemble seiner Zeit – oder mit modernen Kräften wie dem Chamber Orchestra of Europe, unermüdlich erforschte Harnoncourt die Musik von Monteverdi bis Gershwin. Obgleich von jedwedem Aspekt der musikalischen Aufführungspraxis und ihrer Geschichte gefesselt, bestand sein Ziel doch stets darin, die Musik der Vergangenheit in der Gegenwart lebendig werden zu lassen. »Je näher man dem Werk kommt, je besser man es versteht, umso näher ist man auch an der Psyche des Hörers«, sagte Harnoncourt einmal. Harnoncourt wurde 1929 in Berlin in eine nicht reiche, aber musikalische österreichische Adelsfamilie hineingeboren und wuchs in Graz auf. Mit 18 entschied er sich für den Musikerberuf, studierte Cello zunächst bei Paul Grümmer, dann bei Emanuel Brabec und trat 1952 einen Posten als Cellist bei den Wiener Symphonikern an. Obwohl er dem Orchester 17 Jahre lang treu blieb und mit Dirigenten wie Furtwängler und Karajan zusammenarbeitete, war er der Meinung, dass Barock und Klassik einen anderen Ansatz bräuchten. Noch während seines Studiums hatte er begonnen, gemeinsam mit der Geigerin Alice Hoffelner, seiner späteren Frau, mit historischen Instrumenten zu experimentieren. Sie suchten und fanden sie nicht selten in Kirchen und Klöstern, wo die ramponierten Antiquitäten seit dem späten 18. Jahrhundert verstaubten, als kaiserliche Reformen den liturgischen Gebrauch von Orchestermusik einschränkten. Er habe physisch begreifen wollen, wie die Musik jener Zeit gewesen sei, erklärte Harnoncourt, der auch zu denjenigen zählte, die die Gambe als Solo- und Ensembleinstrument wiederbelebten. 1953 gründeten Harnoncourt und Mitstreiter den Concentus Musicus Wien, ein Originalklangensemble, das 1957 seine erste Aufführung gab und für das Harnoncourt das Repertoire aus Autografen erstellte, die er in Bibliotheken und Archiven in ganz Europa auftat. »Was war das für eine Zeit der Entdeckungen!«, erinnerte er sich, »… das Finden dieser Partituren … die Restaurierung historischer Instrumente, das Erproben vergessener Spieltechniken …« Trotz Widersachern wuchs die Popularität des Ensembles schnell, insbesondere nach der Veröffentlichung der ersten Aufnahmen in den frühen 1960er-Jahren. Zu den vielen bahnbrechenden Errungenschaften des Ensembles gehören das legendäre Bach-Kantaten-Projekt (1971-90), das Harnoncourt zusammen mit Gustav Leonhardt realisierte und in dem Knabensoprane erstmals wieder zum Einsatz kamen, sowie ein gefeierter Monteverdi-Zyklus, der in Zürich in 110 ausverkauften Aufführungen dargeboten wurde (1975-79) und auch eingespielt. Harnoncourt leistete auch auf andere Weise einen Beitrag zur Musik. Von 1972 bis 1993 unterrichtete er Aufführungspraxis am Mozarteum und hielt Vorlesungen am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Salzburg. 1985 gründete er die Styriarte, ein Sommerfestival in Graz, wo er neben vielen weiteren Werken so unterschiedliche Opern wie The Fairy Queen, Genoveva und Carmen dirigierte. Zweimal, 2001 und 2003, leitete er das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Er schrieb zahlreiche Aufsätze und Bücher, darunter Der musikalische Dialog, Töne sind höhere Worte und Musik als Klangrede. Harnoncourt hinterließ über 500 Aufnahmen klassischer, romantischer und barocker Werke mit modernen Orchestern und dem Concentus Musicus Wien. Seine Einspielungen des Beethoven-Sinfonienzyklus mit dem Chamber Orchestra of Europe und des Brahms-Zyklus mit den Berliner Philharmonikern wurden ebenso hoch gelobt wie seine Interpretationen der Mozart-Da-Ponte-Opern mit seinem Ensemble. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts nahm er Werke von Berg und Bartók auf sowie 2009 Gershwins Porgy and Bess, ein Werk, das er seit seiner Kindheit kannte und liebte. Im Dezember 2015, einen Tag vor einer Aufführung im Wiener Musikverein, verabschiedete er sich überraschend aus seinem Beruf und mit einer handschriftlichen Notiz von seinem Publikum: »… meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne«, schrieb er. »Da kommen große Gedanken hoch: Zwischen uns am Podium und Ihnen im Saal hat sich eine ungewöhnlich tiefe Beziehung aufgebaut – wir sind eine glückliche Entdeckergemeinschaft geworden!« Am 5. März 2016 starb Harnoncourt im Alter von 86 Jahren.